Hier ist ein zweites Teil des Beitrages „Vergebung im Judentum aus halachischer Sicht“, bzw. Beantwortung in dem Beitrag gestellten Fragen.
Nach Einblick in einen Teil der vielen Quellen zu diesem so wichtigen Thema, das derart entscheidend einflussreich auf das gesellschaftliche Klima ist, möchte ich die resümierenden Gedanken hier niederschreiben.
Was dem Ganzen zu Grunde liegt, ist die göttliche Aufforderung, in SEINEN Wegen zu wandeln, so wie es an einigen Stellen steht, unter anderem im 5. Buch, Sefer Dewarim, 28,9: „du sollst in SEINEN Wegen wandeln“. Die Wege G“ttes sind uns aus der Torah bekannt, sie sind sehr deutlich durch SEINE Bereitschaft, uns Menschen und dem jüdischen Volk zu verzeihen, ausgezeichnet. Dies kommt in den sogenannten „schlosch essre Midot schel Rachamim“, also „13 Eigenschaften der Barmherzigkeit“ zum Ausdruck. Sie werden im zweiten Buch, Sefer Schmot, im Kapitel 34, Verse 6-7 im Kontext der Sünde des „goldenen Kalbs“ aufgelistet.
Somit ist uns als generell geltende und gar verpflichtende Richtlinie vorgegeben, dem Menschen, der mir ein Unrecht getan hat, zu verzeihen. Drei Mal täglich flehen wir zu G“tt, ER möge uns verzeihen (slach lanu Awinu…), wie heuchlerisch und unehrlich wäre es, dies zu erbitten, ohne es selber zu praktizieren.
Im Talmud, Traktat Rosch HaSchana 17,a heisst es: „Jeder, der seine Eigenschaft (des Zorns und des Nichtvergebens) zurückstellt, dem vergibt G“tt alle Sünden“.
Der Schulchan Aruch sagt es unmissverständlich im Siman 606, 1 im Orach Chajim bei den Halachot von Jom Kippur. Dort ist die Rede von den zwischenmenschlichen Vergehen, die es (spätestens) vor Jom Kippur zu bereinigen gilt: „zwischenmenschliche Versündigungen sühnt Jom Kippur nicht, es sei denn sie hätten sich versöhnt….“ Der Rema fügt hinzu: „der um Verzeihung Gebetene soll nicht grausam sein, es sei denn er verfolge damit eine positive Absicht zugunsten des Erbeters.“
Es versteht sich, dass die Voraussetzung, jemandem zu verzeihen, die ist, das der „Täter“ um aufrichtige Verzeihung bittet. Doch auch wenn das nicht geschieht, ist es eine Tugend, es zu tun, denn damit mehrt sich der Frieden in der Welt. Der Talmud erzählt mehrere Beispiele von großen Gelehrten, welche nicht schlafen gingen, bevor sie nicht jedem verziehen, der sie an diesem Tag verletzt und beleidigt hat.
Im Wochenabschnitt Wajigasch erfahren wir ein lebendiges und dramatisches Beispiel dieser Lebenshaltung bei Joseph HaZaddik. Wie er sich den Brüdern als Joseph offenbart und alle Gründe und Mittel gehabt hätte, sich an ihnen zu rächen, zieht er es vor, den versöhnlichen Weg zu gehen. Er deklariert den verängstigten Brüdern gegenüber: „Nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern G“tt…“
Die Torah instruiert uns im 3. Buch, Sefer Wajikra, im 19. Kapitel, wir dürfen unsere Brüder nicht im Herzen hassen, wir sollen nicht Rache üben und nicht nachtragend sein.
Nur in einem Kontext gebietet uns die Torah kompromisslos unversöhnlich zu sein und auf keinem Fall zu vergessen, was uns angetan wurde, das bezieht sich auf Amalek!
Alles, was weniger als das ist, darf, soll, muss vergessen werden. Dies alles gilt natürlich im Rahmen der menschlich möglichen Grenzen und darüber gibt es Vieles zu sagen und zu schreiben.
In der Hoffnung auf eine Gesellschaft des gegenseitigen Respekts und des Friedens,
Yechiel Brukner, Gemeinderabiner SGK